Die Nacht war sternenklar. Der riesige Vollmond tauchte die Trümmer der einstmals majestätischen Hauptstadt in stahlblaues Licht. Zwischen den einzelnen beschädigten oder notdürftig reparierten Zinnen klafften tiefe Schluchten. Zeugen der verheerenden Zerstörung, die nach der Katastrophe das Land Azeroth heimgesucht hatte.
Die Jahre des Krieges waren vorerst vorbei… was blieb… war die Angst vor dem was noch kommen mochte.
Der einzige Glanz, den die Stadt noch immer nicht verloren hatte, war jener in den Augen der Kinder. Von überall her kamen sie in Scharen, aus schmutzigen Gassen und feinen Adelshäusern, um Narros Fabulas Geschichten zu lauschen.
Hastig murmelte Rithea die letzten Worte ihres Gebetes und lugte unter der Kapuze ihres schneeweißen Andachtsgewandes hervor. Die siebenjährige Magistralstochter war umgeben von zahlreichen Gläubigen, die alle demütig die Köpfe gesenkt hielten.
Auch ihr Bruder zu ihrer Rechten verharrte noch immer mir geneigtem Haupt.
Dabei hatte der hohe Priester Alonsus Faol längst die Gebetskuppel verlassen.
Ungeduldig rollte Rithea mit den Augen und ergriff ohne zu zögern die Hand ihres Bruders.
„Saram, wir kommen zu spät!“, flüsterte sie drängend und zog ihn mit sich.
Die tippelnden Schritte der Geschwister hallten in der hohen Kuppel wider als sie sich einen Weg aus der Kathedrale bahnten.
„Verzeihung…“
„Dürften wir..?“
„Verzeiht!“
Ungeachtet der tadelnden Blicke verließen die Beiden eilig das Gotteshaus und stürmten auf den großen gepflasterten Vorplatz.
„Sie haben noch nicht angefangen.“, stellte Rithea mit einem Blick auf den Eingang des schräg gegenüberliegenden Gebäudes erfreut fest.
Fackeln erleuchteten den Eingang des Waisenhauses, welches der Geschichtenerzähler Narros Fabulas zu jedem Vollmondestag besuchte.
„Darum hätten wir uns auch in Aman’Thuls Namen Zeit lassen können.“, erwiderte ihr vier Jahre älterer Bruder betont weise und stupste ihre Stirn mit einer kameradschaftlichen Geste. Rithea schüttelte sich unwillig die Kapuze vom Kopf und stolzierte in Richtung Pforte, wo sie geradewegs mit einem grobschlächtigen Zwergenbuben zusammenstieß.
„Na wen haben wir denn da?“, grinste dieser auf sie herab.
Er roch nach Leder und Ruß und seine Leinenkleider standen vor Dreck.
Als Rithea mit angewiderten Gesicht und einem einfachen „Verzeih‘ “ an ihm vorbeischlüpfen wollte, packte er das Mädchen am Arm und zischte: „Jemand wie ihr hat hier nichts verloren.“
„Lass sie sofort los!“ Sarams Stimme ließ den Aufrührer zusammenzucken.
Doch sein befehlender Ton beschwor sogleich den Zorn des Zwerges herauf.
Ungestüm stieß er die schluchzende Rithea fort und baute sich vor Saram auf.
Er war um einige Jahre älter, weshalb sie sich auf Augenhöhe befanden.
Schon hatte der Zwerg die Hand zum Hieb erhoben, da erstarrte sein Arm plötzlich in der Luft.
Eine dünne Schicht aus Eis hatte ihn von der Schulter bis zur Hand überzogen.
„Was zum- !?“ Vom Schock getroffen starrte der Angreifer sein Gegenüber an.
Der Schein der Fackeln ließ Sarams rotblondes Haar wie ein loderndes Feuer scheinen und die Flammen spiegelten sich in seinen dunklen Augen.
„Entschuldige dich.“, war das Einzige, das er kühl entgegnete.
Von Furcht ergriffen stammelte der Zwerg: „E-es tut –tut mir leid! Mach das ungeschehn‘ BITTE!“
Sowie er es ausgesprochen hatte war sein Arm frei und der nun gar nicht mehr so mutige Knabe stürzte jammernd in das Innere des Waisenhauses.
„Wie hast du das gemacht?“, fragte Rithea, der noch immer vom Staunen der Mund offen stand.
„Ich weiß‘ nicht.“, antwortete ihr Bruder grinsend.
«Sargeras, ein ehemals stolzer Vanir-Titan… mit seinem Verrat, seiner Metamorphose zum dunklen Titan, begann alles. Ihr erinnert euch doch noch, wer die Titanen waren? Unglaublich mächtige, majestätische Wesen, Blutsverwandte der Götter. Die Reisen dieser schöpferischen Giganten führten sie durch den Kosmos, den sie zu formen und zu ordnen suchten. Das Zeitalter der Titanen liegt nun weit weit zurück. Aber man vermutet, dass einige von ihnen bis in die heutige Zeit überdauerten. Altvater Winter zum Beispiel wird von den Zwergen seit jeher als Verkörperung der Titanen angesehen.
Damals jedenfalls oblag das Schicksal der Welten den Titanen und ihren Streitkräften. Der Champion des Pantheons, Sargeras, befehligte die Armeen der Alten. Jedoch wandelte sich seine einstig reine und gewissenhafte Seele durch all das Elend und den Hass gegen welche er unablässig über viele Millennia kämpfte. Sein Verdruss nährte plötzlich die Überzeugung in ihm, dass Chaos und Verderbnis die wahre Gestalt des dunklen Universums seien. So wurde Sargeras zum größten Feind der Titanen. Abtrünnig und getrieben von blinder Zerstörungswut erschuf er eine immense Armee aus unzähligen Dämonen, Höllenbestien und verderbten Rassen. Das grausame Heer zog aus, die Lande zu verwüsten und jedes Leben auf den Planeten auszulöschen. Es trug sich nun zu, dass Sargeras besonders auf die recht junge Welt von Azeroth aufmerksam wurde. Die Leichtsinnigkeit mit der die Hochelfen über die Magie des Brunnens der Ewigkeit verfügten und die unendliche Quelle von Energie selbst reizten ihn.»
„Hat Sargeras Sturmwind zerstört?“, ein mausgesichtiger Waisenjunge war mit weit aufgerissenem Mund aufgesprungen.
Narros Fabulas lächelte geheimnisvoll und stopfte gemächlich seine Pfeife.
„Nun…das werdet ihr bei meinem nächsten Besuch erfahren.“